ZWANGSLÄUFIG ANSTECKEND [November 2019]

Vom 08.11.19 bis 15.11.19 beteiligt sich die forschungsgruppe kunst an der Gemeinschaftsausstellung "ALLE ZUSAMMEN" im Projektraum STUDIO 36 in Rostock.






Seit einigen Jahren ist in der westlichen Himmelsphäre eine zunehmende Tendenz zur Enthaarung des Körpers (Ganzkörperrasur, Intimrasur), vor allem bei Frauen, zu beobachten. Ein zu starker Haarwuchs gilt als unästhetisch, und auch die Produktwerbungen und Wellnessreklamen bestätigen und unterstützen den steten Trend zur glatten, haarlosen Haut. Obwohl die gesellschaftliche Akzeptanz von Körperhaaren bei Männern wesentlich höher ist, ist auch hier mittlerweile ein stärkerer Drang zur Ganzkörperrasur zu erkennen. Heute entfernen sich laut einer Studie der Universität Leipzig unter jungen Erwachsenen 97 % der Frauen und 79% der Männer regelmäßig einen Teil der Körperbehaarung. Dabei verbringt jede Frau im Durchschnitt 72 Tage in ihrem Leben mit dem Rasierer in der Hand.
Der Enthaarungs-Markt ist heiß umkämpft, ob nun SUGARING, WAXING oder DAUERHAFTE HAARENTFERNUNG. Die Big Player Senzera und Wax in the City locken mit wachsweichen Slogans: „Sexy von Kopf bis Fuß durch schöne, glatte Haut“; „Wir entfernen Ihre Körperhaare überall dort, wo sie nicht hingehören.“; „Seidig glatte Beine für bis zu 4 Wochen“; „Für immer ohne Haare“ oder „Dauerhaft haarfreie Zeit“. Und sie beantworten auf ihren FAQ Seiten natürlich alle noch offenen Fragen: „Kann ich auch schon bei 2 mm langen Haaren zum Waxing gehen? Ist die Pofalte beim Brazilian Waxing mit dabei?“ oder „Wird beim Waxing „Beine komplett” auch die Bikinizone mit einbezogen?“.
Der Enthaarungswahn ist in vollem Gange, ob nun Studios oder Kosmetikindustrie … der Rubel rollt!
In seinem Text „Haarige Betrachtungen“ beschäftigt sich der deutsche Soziologe Prof. Dr. Dirk Kaesler mit den Hintergründen des gesellschaftlichen Drucks einem bestimmten Schönheitsideal zu entsprechen. In den 1920er starteten die Werbetexter in Europa und Nordamerika verschiedene „Anti-Körperbehaarungskampagnen“. Mit dem Ziel den Umsatz ihrer Auftraggeber, der Kosmetik- und Rasiererbranche, zu vergrößern. Hundert Jahre später haben diese Kampagnen immer noch Bestand und sind mittlerweile in großen Teilen zum Bestandteil unserer gesellschaftlichen Normvorstellungen geworden. Dirk Kaesler schreibt dazu: „Ekel ist die Reaktion, die am häufigsten in Verbindung mit Körperhaaren empfunden wird. Der Ekel steht in Zusammenhang mit Scham und dem Wunsch, diejenigen zu bestrafen, die den Ekel erregen. Körperhaare werden auf diese Weise in eine Reihe mit Benimmregeln gestellt, die zu brechen unser anerzogenes oder erst zu erlernendes Schamgefühl zu verhindern weiß.“ Neben den Gleichaltrigen sind auch die eigenen Mütter und Väter praktizierende Mittäter bei diesem großen sich immer noch drehenden Marketingrad. Sie selbst sind durch die gesellschaftliche „Sanktionshölle“ gegangen und haben sich aufgrund geringen Rückrades und fehlenden Widerstand geschmeidig an die sogenannten Normen angepasst.
Neben dem Wie und Wann beleuchtet Dirk Kaesler mit seinem soziologischen Backround auch das spannende Warum: „Die Entfernung der Körperbehaarung ist ein Beispiel dafür, wie die Natur über Triebe und Emotionen hinaus gezähmt werden kann. Nach der erfolgreichen Zähmung der Triebe muss das Äußere des Körpers unter Kontrolle gebracht werden. Die Zivilisiertheit muss sichtbar gemacht werden, und zwar bis in die intimsten Bereiche hinein. Verwendeten unsere Vorfahren noch Zeit und Energie darauf, körperliche Ausscheidungsvorgänge und Sexualtriebe zu leugnen, so ist es heute die sichtbare Natürlichkeit, die geleugnet werden will. Der Mensch will die letzten Anzeichen dafür ausmerzen, dass er mit dem Affen verwandt ist. Nichts darf darauf hinweisen, dass wir Produkte einer Natur sind, die uns in der Hand hat. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass zumindest der Eindruck entsteht, wir hätten sie in der Hand.“

Und genau dieser Gesichtspunkt ist ein spannender Ansatz um sich als humanoides Wesen im digitalen Zeitalter zu orientieren. Unser Wunsch und unser Streben nach Liebe, Macht,  Allwissenheit und Unsterblichkeit lassen sich nicht mehr mit dem natürlich unvollkommenen Homo Sapiens in Einklang bringen. Begrenzte Lebenszeit, natürlicher Zerfall und die individuelle Ausgestaltung unseres Körpers sind Hemmschwellen für das Überleben in der „Schönen Neuen Welt“. Dagegen sind Avatare, Androiden, Künstliche Intelligenzen, all diese digitalen Alter Egos uns heute näher denn je. Makellose glatte Oberflächen sind wohl ein äußerer Erkennungswert für das trügerische Gefühl, dass wir die Natur in der Hand hätten. Neben dem gewaltigen Marketingrad sind auch diese soziologischen Zwänge Abstrusitäten denen wir uns entgegenstellen und den ganzen Enthaarungswahn wohl eher in Absurdistan verorten.