Ob
in der Philosophie, Architektur oder Politik, der Begriff Genius
Loci
selbst ist eine Referenz, ein Werkzeug, mit dem man Orte beschreibt.
Das Wort Ort
ist
natürlich nicht der Ort selbst und je mehr wir uns mit dem Genius
loci
auseinandersetzten, desto weiter sind wir auch von seiner physischen
Präsenz entfernt. Orte werden in erster Linie phänomenologisch
erfahren, sie entstehen durch die Aufmerksamkeit, die wir ihnen
zollen, durch den staunenden Blick unseres Auges, durch die Berührung
unserer Hand, durch den einprägenden Klang in unserem Ohr, durch die
Konzepte und Erzählungen, die wir, wenn auch nur momentan, auf ihren
Oberflächen abladen. Der Spirit eines Ortes ist nicht etwas, das für
immer und ewig in Stein gemeißelt sein muss. Er ändert sich, wenn
sich die Bedeutung eines Ortes ändert.
Am
Anfang des Baus der ersten Atomkraftwerke stand die Utopie einer aus
kostengünstiger und nie versiegender Energie gespeisten
Klimatisierung der Umwelt.
„Ein
Pfund von diesem Material reicht um eine ganze Stadt zu beleuchten“
schrieb
die Illustrierte
„Life“[1958] unter einem abgelichteten strahlenden Uranbrocken. Der
verschwenderische Umgang mit künstlichem Licht wurde zum Zeichen für
urbane, unabhängige und freiheitliche Lebensweise. Im
Jahr 1954 ging das erste kommerziell betriebene Atomkraftwerk im
russischen Obninsk
ans Netz. Heute sind mittlerweile weltweit 440 Kernreaktoren mit dem
Stromnetz synchronisiert und es werden immer mehr Orte an denen diese
schwer kontrollierbaren Kräfte walten. Es gibt aber auch Länder wie
Irland,
Neuseeland, Philippinen, Kuba oder Deutschland die sich aus
verschiedensten Gründen gegen diesen Weg der Energieerzeugung
entschieden
haben. Nach
den religiösen Vorstellungen der Polynesier sind „unberührbare
Dinge“
mit einem Verbot belegt. Tabuisierte Dinge müssen streng gemieden
werden, da sie gefährliche Kräfte besäßen. Zum Tabu gehört auch,
dass es nicht hinterfragt werden darf, da es als „heilig“
gilt. Wir
haben das Gefühl, dass in vielen Regionen der Erde mittlerweile die
Atomkraftwerke zu „heiligen“
Tabuzonen mutiert sind. Spannend
wird es sein, wie zukünftige Generationen mit unseren
schwerverdaulichen Erbe der Energieerzeugung umgehen werden?
Wird
die Architektur der gewaltigen fensterlosen Volumina mit ihrem
gefährlichen Innenleben zukünftig noch in irgendeiner Form unserer
heutigen Definition des Genius
loci
gerecht? Oder haben wir schon unbewusst den Countdown für das
kollektive Ende aller Genius
loci
gestartet?